Die Krake des Nullerjahre-Wohnstils

Posted on July 21st, 2011, July 21st, 2011 in Uncategorized.

Roger Diener ist ein erfolgreicher, gescheiter und erst noch gut aussehender Architekt. Solche gibt es einige. Doch hat er darüber hinaus eine Eigenschaft, die manchem abgeht: Er ist selbstkritisch. Das bewies er kürzlich erneut, mit einem Vortrag beim ETH Wohnforum in Zürich. Dort prangerte der Basler nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst an, uniforme, anonyme und letztlich unbewohnbare Wohnungen zu bauen – bloss weil heutige Bauherren diese so bestellen.

Die schein-heimeligen Holzfassaden des Siegerprojekts für die Überbauung des alten Kinderspitalareals am sonnigen Kleinbasler Rheinufer garantieren noch keine Wohnlichkeit. Die Konzepte des letzten Jahrzehnts haben ausgedient - der Weg in die Zukunft führt über neue Bescheidenheit, sagt Architekt Roger Diener.

Ausgehend vom Wohnzimmer, das stets riesig sein muss, mit Cheminée und grossen Fenstern bis zum Boden, beschrieb er den Nullerjahre-Allerweltsstil gehobener Neubauten. Als unpraktisch und überinstrumentiert denunzierte er die heutigen Badezimmer, die sich – mit der frei stehenden Badewanne – als Teil des Schlafzimmers inszenieren. Solche Wohnungen könne man praktisch nur mit Designer-Möbeln bestücken, doch letztlich blieben sie seelenlos.

Basel bekommt neue Stadtteile. Dagegen gibt es Proteste von Familiengärtnern. Die Jugend sieht sich um ihre Freiräume betrogen. Die leider verunglückte Besetzung des alten Kinderspitals war ebenfalls eine Geste gegen das Neue, das dort entsteht. Nun sucht Immobilien Basel-Stadt für die Überbauung einen Investor. Dieser sollte Roger Diener gut zuhören.

Denn auch dem Kinderspital-Areal droht modernistische Gesichts- und Gemütlosigkeit, trotz äusserlich heimeliger Holzbau-Architektur. Es gibt kaum Diskussionen darüber, welche Qualität Wohnungen wir in den Neubaugebieten wollen oder wie das Zusammenleben in diesen Quartieren aussehen wird. Visionäres, der kommenden Energie- und Raumknappheit Angemessenes, sucht man vergeblich.

Ein schlechtes Beispiel ist das Erlenmatt-Quartier, wo nicht einmal der Minergie-Standard obligatorisch ist. Eine etwas bessere Leistung in dieser Hinsicht erhoffen wir vom Dreispitz. Die Zukunft liegt vielleicht bei Renovationen oder Genossenschaften, wo nicht die Expansion des Privaten, sondern die Konstruktion des Gemeinschaftlichen – ohne Zwang – im Vordergrund stehen könnte. Aber auch hier scheuen manche Bauherren Neues zu wagen, zum Beispiel mit Nullenergie-Häusern oder fantasievoller Aussenraum-Gestaltung.

Es sind Banken, Versicherungen und Pensionskassen, welche die heutige Stadtexpansion finanzieren und damit unseren zukünftigen Lebensstil prägen. Viele ihrer Entscheidungsträger wohnen in Vorstadt-Villen mit Doppelgarage und Pool. Dass ein Haushalt mit einem Wohnzimmer von 25 Quadratmetern ebenso glücklich sein kann wie mit 40 oder 60 Quadratmetern, können sie sich vielleicht gar nicht vorstellen. Deshalb ist selbst Roger Diener gezwungen, Grundrisse zu zeichnen, die rasch veralten. Mehr Weitsicht ist gefragt – wer wagt sie?

Dieser Beitrag reflektiert die Meinung der Autorin / des Autors und nicht zwingend diejenige der Redaktion.

10 Responses to 'Die Krake des Nullerjahre-Wohnstils'

Subscribe to comments with RSS or TrackBack to 'Die Krake des Nullerjahre-Wohnstils'.

  1. Jürg Tanner said,

    July 21st, 2011, 10:47

    Energetisch zeitgemäss zu bauen ist ja Pflicht. Grosse Fensterflachen förden die Gesundheit (Winterdepression). Wenig Möbel und unnötige Dinge sind befreiend und erholsam. (Cheminee ist Luxus). Wie bitte wird denn “richtig” gebaut? Bitte Konkret werden! Ich würde sagen vor allem preisgünstiger, das würde am meissten glücklich machen.

  2. Daniel Seiler said,

    July 21st, 2011, 10:59

    Je grösser das Gebäude, desto weniger Charakter hat es. Man sollte sich einmal überlegen, ob man für die Stadtentwicklung nicht kleinere Parzellen, vielleicht auch an kleinere lokale Bauherren abtreten kann…

  3. Rolf Keller said,

    July 21st, 2011, 11:04

    Ich bin Roger Diener sehr dankbar für die späte Erkenntnis, dass 40-60 qm Wohnzimmer, wenn möglich noch mit integrierter Küche, ungeeignet sind – ausser vielleicht für doppelt gut verdienende kinderlose Paare, die ausser Tiefgarage, Lift und Wohnung keinen Bezug zur Stadt haben müssen. Wer trotzdem Kinder wagt, muss sie dafür in 12 qm kleine Kammern pferchen, ohne Möglichkeit zum Spielen oder für ein weiteres Kind. Und dies bei exorbitanten Mieten für Wohnungen, die eigentlich völlig Familien-untauglich sind, aber mangels Alternative.

  4. Urs Flueckiger said,

    July 21st, 2011, 11:36

    Grosse Wohnzimmer wirken befreiend, also 40-60 qm sind wünschenswert.Es hapert immer noch bei den kleinen Schlafzimmern von 15-18qm. Cheminee’s sind unnötig. Leider haben die meisten grossflächigen Wohnungen zu viele Zimmer, also 150-180 qm mit drei/vier Zimmern gibt es fast nicht. Wäre gut von Roger Diener zu hören, was denn seine wirklichen Vorstellungen sind.

  5. Jürg Tanner said,

    July 21st, 2011, 16:15

    Mami werkelt in der Küche und hat dabei ein Auge auf den Nachwuchs, ist anwesend, in Sichtweite und trotzdem nicht zu nahe. So gesehen ist die Kombination: Kochen-Essen-Wohnen sehr sozial. Glozze muss ja nicht sein.

  6. Thomas Richers said,

    July 21st, 2011, 14:42

    Es heisst “der Krake”.


  7. July 21st, 2011, 14:56

    Beides geht “der Krake” und “die Krake” 🙂
    Siehe: http://www.duden.de/rechtschreibung/Krake

  8. Baschi Dürr said,

    July 24th, 2011, 21:06

    Das mit Abstand Erkenntnisreichste dieser Themenabhandlung.

  9. rio said,

    July 21st, 2011, 23:58

    ein super beitrag, ein bisschen am thema vorbei und nur halb richtig… dennoch sehr wertvoll!

  10. Michelle Stigeler said,

    July 22nd, 2011, 0:01

    eksgüsi Herr Wiener, Herr Diener, glauben sie, ist dazu gezwungen, unbrauchbare Grundrisse zu zeichnen?!
    Schade, denn mit steigender Freude und Hoffnung habe ich ihren Artikel gelesen….. bis zu diesem satz.

Post a comment