Ode an Nichtwählende

Posted on October 20th, 2011, October 20th, 2011 in Uncategorized.

Nichtwählerin, Nichtwähler, gestatte, dass ich Dich duze. Nicht, weil wir eng befreundet wären und auch nicht, weil jetzt eine Moralpredigt von Vater zu Tochter oder Sohn folgt. Sondern weil Du mir nahe stehst. Nahe und doch so fern.

Wenn man’s richtig bedenkt, ist es verwunderlich, dass rund die Hälfte des Stimmvolks an der bevorstehenden Wahl teilnimmt. Denn die Wahlverweigerer sind keinesfalls dümmer oder fauler, vielleicht sogar schlauer.

Nahe stehst Du mir, weil ich mit Dir einig bin: Es kommt nicht darauf an, ob ich wählen gehe oder nicht. In meinen 40 Jahren als Stimmbürger habe ich noch nie erlebt, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Wenn ich stimmen ging, hatte ich keinen Einfluss auf das Ergebnis. Wenn ich einen Urnengang verpasste, krähte kein Hahn danach. Selbst beim knappsten Resultat, das ich je in Basel erlebte, gaben mehr als 50 Stimmen Unterschied den Ausschlag.

Fern stehst Du mir, weil ich mein Stimm- und Wahlrecht fast immer ausübe. Meistens fülle ich die Zettel am gleichen Tag aus, an dem sie kommen. Und dann ab die Post, ohne Stress zum nächsten Briefkasten. Heute ist der letzte Tag, an dem dies noch möglich ist für die Parlamentswahl 2012.

Es ist mir selbst unerklärlich, weshalb ich das tue, immer wieder. Mein Verhalten ist komplett irrational. Es ändert ja nichts. Es sieht’s ja keiner. Ich kann mich sogar als Wähler ausgeben, ohne einer zu sein. Was treibt mich denn dazu, mein Aktivbürgertum nicht nur zu behaupten, sondern tatsächlich auch zu leben? Und viele andere auch?

Wenn man’s richtig bedenkt, ist es verwunderlich, dass rund die Hälfte des Stimmvolks an der Wahl teilnimmt. Verständlich ist hingegen, dass so viele wahlabstinent sind. Die Wahlverweigerer sind keinesfalls dümmer oder fauler, vielleicht sogar schlauer. Sie verlassen sich auf die andere Hälfte der Berechtigten: Ginge diese auch nicht hin, wäre keine Wahl mehr möglich. Dann lebten wir in einer Diktatur.

Wählen zu gehen, ist also ein Akt der Solidarität. Nicht mit dem Staat und auch nicht mit den bedauernswerten Kandidierenden, sondern mit allen, die nicht wählen gehen. Ich tue es für Dich, liebe Nichtwählerin, lieber Nichtwähler! Und erwarte auch Deinen Dank. Aber bleibe ruhig zuhause, so hat meine Stimme mehr Gewicht. Ich treffe die Wahl zwischen neoliberal und sozial, zwischen national und multikulturell, zwischen reaktionär, konservativ und aufgeklärt, zwischen konstruktiv und destruktiv, melonen- und gurkengrün. Ich gebe die Richtung vor!

Ich? Es kommt doch nicht darauf an. Meine Stimme gibt nie den Ausschlag. Es ist mein Mitgefühl, das mich an die Urne treibt. Niemand soll in einer Diktatur leben müssen, auch Nichtwählende nicht. Bleibe ruhig zuhause, meine Freundin, mein Freund, sonst verliere ich die Motivation, das Stimmcouvert einzuwerfen. Wehe, Du wählst jetzt noch! Dann hätte ich es eben so gut lassen können.

Dieser Beitrag reflektiert die Meinung der Autorin / des Autors und nicht zwingend diejenige der Redaktion.

7 Responses to 'Ode an Nichtwählende'

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  1. Nichtwähler said,

    October 20th, 2011, 14:03

    Sehr geehrter Herr Wiener,

    Vielen Dank für Ihre freundlichen Worte. Ich habe mich sofort angesprochen gefühlt. Ich danke Ihnen übrigens noch für Ihren top-Einsatz, so kann ich am Sonntag nämlich den Match schauen gehen und mich dann gemütlich am Aben vor den Teletext setzen und über die behämmerten Wähler fluchen.

    Jetzt aber mal “joke on the bycicle”. Können Sie mir sagen, warum wir keine “Enthaltungs”-Liste erstellen. Wir haben – meines Wissens nach – nur die JA / NEIN Stimmen. Aber keine Enthaltungen. Würde dies denn nicht ein wenig mehr aussagen? Wir wissen ja nicht, WARUM die Leute nicht wählen gingen. Evl sind sie ja mit ALLEN nicht einverstanden (so wie ich z.b.).

    Grüsse

  2. Dauerwähler said,

    October 20th, 2011, 14:22

    es geht ja meist nicht darum, die Besten zu wählen sondern das kleinste Übel. In diesem Sinne: auf zur Wahl!

  3. Rorufu said,

    October 20th, 2011, 15:28

    Manchmal ist auch das kleinste Übel einfach nix. Zum ersten Mal in 30 Jahren nicht gewählt, was soll’s…

  4. Meierei said,

    October 20th, 2011, 15:51

    Geschätzter Herr Wiener

    Enthaltung ist, wenn Sie den/die Wahlzettel leer lassen 😉

  5. Fredy Brülhart said,

    October 20th, 2011, 19:38

    Viele meiner ausländischen Freund beneiden uns Schweizer das wir abstimmen dürfen und können nicht verstehen wenn nicht mal die Hälfte zum abstimmen geht.
    Bei Sachvorlagen stimm ich immer ab, auch wenn Herr Wiener meint dass seine enthaltene Stimme eh nicht das Resultat verändert hätte, aber wenn alle so denken würden dann bräuchten wir doch gar nicht mehr abzustimmen und wir machen es dann so wie die EU. Es braucht kein Volk mehr welches abstimmt, dafür haben wir unsere Bundesräte die bestimmen was gemacht wird. Ist es das was Sie wollen Herr Wiener?
    Wenn wir irgendwelche Leute wählen sollen, dann lass ich auch schon mal den Urnengang ausfallen, weil ich eh nicht weiss wen ich da wählen soll, ich kenne die Leute nicht und was sie von sich vor der Wahl preisgeben ist meistens eh nur Augenwischerei.

  6. Markus Schöpfer said,

    October 20th, 2011, 21:18

    Angesichts des Plaketwaldes fragt man sich, ob es Sinn macht, sich damit auseinander zu setzten. Je mehr man überlegt, desto mehr gehen einem die Köpfe auf den Wecker… Deshalb mach ich es auch so. Sofort nach Erhalt der Wahlunerlagen stellen sich bei mir die Ampeln auf grün, und ich wähle. Dann, ab in die Post. Und dann, einen riesen Bogen um die Köpfe machen, vor um die der SVP, CVP und FDP! Die nächsten 4 Jahre werden nachhaltiger, und meine Stimme hat dies bewirkt! (nicht nur meine). Wenn der Verfasser des Artikels denkt, er hat mich hinter dem Ofen hervorgeholt, muss ich ihn enttäuschen. Ich wähle seit eh und je, und dass mit grossem Erfolg. Meine Stimme wurde bis jetzt immer gezählt… 🙂

  7. Hurni Fritz said,

    October 27th, 2011, 17:36

    “Freie Wahlen” bedeutet in einer Demokratie nun mal auch, die Freiheit zu haben nicht an den Wahlen teilnehmen zu müssen.
    Meine Arbeitskollegin aus der ehemaligen DDR erzählt, wie jeweils am Wahltag das Telefon geklingelt habe und gefragt wurde, wo denn die Herrschaften bleiben würden, man habe sie noch nicht im Wahllokal gesehen … Wollen wir das hier auch? Eben…

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